Niemand hat alles

Weber war immer auf sich selbst gestellt gewesen. Er wusste das, hatte es verinnerlicht. Er wusste auch, nicht wie andere zu sein, obgleich er herzlich gerne wie sie gewesen wäre. Weber war zwar nicht ausgesprochen musikalisch, doch nach Harmonie sehnte er sich immer. Weber war seinem innersten Wesen nach Lehrer und Vermittler. Er selber lernte für sein Leben gern. Nur nicht dumm sterben, war eine seiner Maximen. Dabei hatte er längst begriffen, wie wenig es im Grunde zu lernen gab. Der auf die Welt gekommene Mensch ist zunächst hilflos, das stimmt, doch es sind ja fast immer andere da, die ihn nicht verkommen lassen. Wer kein Baby mehr ist, hat diese Erfahrung gemacht: mehr, als von Anbeginn in einem steckt, kann auch kein Lehrer und keine Lehre in einen hinein treiben. Der einzelne Mensch ist eine Monade, insoweit hat Leibniz vollkommen recht.


Das  erste und einzige, was man wirklich lernt, ist sprechen. Saugen, und später dann essen und Trinken, das kann ein jeder instinktiv, wie das sich entleeren auch. Da gibt es nichts zu begreifen, folglich ist da auch kein Grund gegeben, hierüber zu reden. Nur mit seinem Arzt redet man darüber, falls einmal etwas nicht auf natürliche Weise klappt. Und  die einmal gelernte Sprache ist auch das Einzige, was man als Mensch wirklich besitzt. Daher auch der Respekt, den jeder vernünftige Mensch vor der Macht und Ohnmacht der Sprache hat. Es ist einer der traurigsten Sätze, die einem begegnen können, wenn man lesen muss, das Gesagte sei allemal das Gemeinte schon nicht mehr. Wenn man dann stutzt und verzagen möchte, kann einem nur der andere Satz des gleichen Mannes trösten, der da lautet, alles Gesagte könne allemal auch anders gesagt werden. Wenn einem ein Anfang entgleitet, fange man einfach noch einmal an. Gerade der Harmoniesüchtige weiss es ja, der Ton macht die Musik. Wie es gilt, stets den richtigen Ton zu finden, so wichtig ist es beim Sprechen und Schreiben, mit dem rechten Anfang anzufangen.


Die Leute sagen es oder der Volksmund weiss es, jeder Mensch hat eine Mutter. Für das Faktum der Geburt mag dies zutreffen. Für die erzählbare Lebensgeschichte eines jeden aber noch lange nicht. Weber zum Beispiel hatte nur die Mutter seiner Mutter als Mutter. Weber war so hieran gewöhnt, dass es ihm nie beikam, an dieser Tatsache etwas zu vermissen. Webers Mutter hatte gute Gründe, ihn mit drei Jahren bei ihrer Mutter zur Pflege und Aufzucht zurückzulassen. Daran kann Weber sich aber nicht erinnern, man hat es ihm später erzählt. Wenn Weber, als Kind, an seine Mutter dachte, war es immer ein Denken an einem Besuch, also an etwas Kurzzeitiges und Vorübergehendes. Mutter war für Weber also kein Wort oder Begriff für Dauer und Geborgenheit. Für Weber, als er dann ungefähr zehn Jahre alt war, bedeutete Mutter soviel wie Sonntag, jemanden Besuchen und dort sich wohlverhalten und sich auch rechtfertigen müssen. Unter solchen Kautelen wird der Mutterbegriff seltsam flach und sozusagen zweidimensional.


Webers Grossmutter hingegen war für Weber der Inbegriff für Macht, Wärme, Können und Lebensfülle. Diese Frau strotzte von all dem. Gesprochen aber hat sie in den sechzehn Jahren, die er bei ihr und mit ihr zusammenleben durfte und musste, herzlich wenig. Dennoch war Weber sich stets sicher, sie immer gut verstanden zu haben. Sie selber hatte als Kind bei ihren Eltern in Rogätz, Kreis Wollmirstedt bei Magdeburg das mitteldeutsche Platt der Magdeburger Börde gelernt, hatte aber diese ihre angeborene Mundart als eine Berliner Marktfrau und Obsthändlersche vollkommen verdrängt und vergessen. Sie sprach tatsächlich, wenn sie mal sprach, wie ein Berliner Marktweib. Sie sprach aber immer, wie sie dachte, klar und unmissverständlich. Weber, als Kind, parierte ihr aufs Wort, genauer: auf einen jeden Blick. 


Sprechen gelernt hatte Weber also wohl eher in den drei Jahren, solange seine leibliche Mutter noch bei ihrer Mutter mit dem Kind Weber als die Tochter lebte. Webers Mutter hatte fünf Geschwister, eine zehn Jahre ältere Schwester und - dazwischen - vier Brüder. Sie selber war die jüngste von Grossmutter Webers sechs Kindern. Als Weber unehelich auf die Welt kam, waren die anderen Fünf aber längst aus dem Elternhaus entkommen und hatten sich selbständig gemacht, ein jeder auf seine eigene mehr oder weniger beschränkte Weise. Webers Mutter hatte wie alle ihre Geschwister das gleiche Bestreben: nichts wie weg von der geradezu männlichen Strenge ihrer Mutter, wenn man ihren späteren Erzählungen Glauben schenken darf. Aber was die Gründe und Abgründe der Familie Weber anbetraf, hatte Weber schliesslich nicht viel mehr als die späteren Erzählungen seiner Mutter, wenn er sie des sonntags für ein paar Stunden besuchte. Und einer ihrer bemerkenswerten Sätze war dann, seltsam, zu dir ist sie ganz anders und viel netter und liebevoller, als sie jemals zu uns allen gewesen war. Hierüber war Weber immer wieder verwundert, denn er liebte seine Grossmutter, so unzugänglich sie auch stets gewesen war, denn sie hatte ihn verwöhnt und niemals geschlagen. 


Wie bereits gesagt, als Weber drei Jahre alt war, lernte seine Mutter als Platzanweiserin in einem der letzten Berliner Stummfilmkinos, im Filmpalast in der Kleinen Frankfurter Strasse, einen Geiger kennen, der dort mit einer ihm ergebenen Musikerschar die passende Musik zu den Stummfilmen machte, die zweimal die Woche wechselten. Obwohl dieser Geiger, er hiess Bruno, also ein von Noten überhäufter Mann war, vom Nachmittag bis in die späte Nacht hinein schwer beschäftigt, hatte er Webers Mutter doch ein Kind gemacht, und dieses zweite Kind war dann - indirekt - der Anlass, dass Webers Mutter zu Hause ausziehen musste. Der Geiger, ein vielseitiges Talent, er war in seiner Freizeit auch Segler und Boxer, er war aber - aus der Sicht von Webers Grossmutter - leider auch SA-Mann. Und als einmal Webers Mutter ihrem Jüngsten etwas Zucker in die Milchflasche tun wollte, sie war schlank und zart wollte nicht allzu lange stillen, da brummte ihre Mutter heftig und deftig, für det Nazijör sei ihr der eigene Zucker zu schade. Man muss dazu wissen, sie selber war, als Kassiererin für die Rote Hilfe, aktive Kommunistin. Der geigende Nazi, der aber aus einer wohlsituierten Berliner Musikerfamilie stammte, war auch sonst ein Ehrenmann: er heiratete Webers Mutter nach der Geburt ihres zweiten Sohnes vom Fleck weg und er wollte auch ihr erstes Kind adoptieren, doch Webers Oma war entschieden dagegen. Überliefert ist ihr Diktum, det Jör kricht der Nazi nich! Auf diese Weise hatte der Satz der Leute, jedermann habe schliesslich eine Mutter, für Weber doch immer eine stark relativierte Bedeutung.